Die Legende vom
Schwarzen Strand
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Kapitel VI. - Die Briefe
Ich bin kein Fan von Museen. So viele geschichtsschwangere Dinge auf einem Haufen, egal ob es sich um Weltereignisse, Kunst oder auch sehr nischige Themen wie „Die Evolution der Teppichfliese im Laufe der Jahrhunderte“ handelt, machen mich schwindlig. Alles ist so aufgeladen, so pseudo-wertvoll, so nahezu verloren. Doch heute fällt mir nichts besseres ein. Und das will schon etwas bedeuten, wenn ich einen Besuch im Landeskundemuseum Oldenburg in Holstein erwäge, weil ich der Meinung bin, alle Aperol Spritz schon getrunken, alle Strandspaziergänge gemacht und alle Bücher der hiesigen, spärlich ausgestatteten Buchhandlung schon gelesen zu haben, die in einen Urlaub am Meer hineinpassen.
Im Eingang des windschiefen Fachwerkhauses erwartet mich dann auch unüberraschenderweise ein gigantisches Wandfresko mit den Wappen der Schleswig-Holsteinischen Großfamilien, inklusive davor pittoresk aufgeschütteter Stranddüne. Ihre Ahnen halten die Nordlichter in Ehren, auch wenn von vielen Familien mittlerweile nicht viel mehr übriggeblieben ist als Einträge in den alten Stadtregistern. Hoffentlich gibt es zumindest ein paar Ritterrüstungen zu sehen, denke ich mir.
Ich scheine gerade rechtzeitig zu kommen, denn ein Mann winkt just in diesem Moment lautstark eine kleine Gruppe Besuchende zur großen Museumsführung heran, der ich mich nur allzu gerne anschließe. Das monotone Gemurmel des Angestellten ziehe ich heute definitiv den irre kleingedruckten Infoplaketten der Exponate vor.
„Hier entlang bitte, meine Damen und Herren“ näselt der Mann, „wir beginnen unseren Rundgang im Panoramasaal“. Mit flinken Schritten setzt er sich an die Spitze der kleinen Gruppe und schreitet in einen Raum, der nur den Titel „Saal“ verdient, weil er im Vergleich zu den anderen Räumen des Museums einfach am größten ist. An den Wänden reiht sich allerlei landwirtschaftliches Werkzeug, ausgefranste Karten unterbrechen die Leere zwischen den Fenstern und der Geruch von Bohnerwachs liegt über der ehrfürchtigen Atmosphäre im Raum, während ich mich langsam, aber sicher einlullen lasse.
Als ich wieder aus meiner Bildungstrance erwache, stehe ich vor einer Glasvitrine. Meine Armbanduhr verrät mir zwar die Uhrzeit, aber nicht, womit ich die letzten 1 ½ Stunden verbracht habe, geschweige denn in welchem Teil des Museums ich mich befinde. Hinter den milchigen Fenstern ist es dunkel geworden und anscheinend bin ich der einzige Mensch, der während der Führung nicht die Flucht ergriffen hat - jedenfalls bin ich mit dem Museumsangestellten allein im Saal. Irritiert blinzelnd schaue ich mich um, während der Museumsführer mit einem Deut auf die Vitrine einen Satz mit „… wohl eines der wichtigsten Exponate unserer Ausstellung.“ beendet. Ich trete einen Schritt näher heran. „Dieses Collier wurde unserem Museum nach überraschend kurzer Verhandlung überlassen, nachdem man es in den Überresten eines alten Herrenhausfundamentes gefunden hatte, das vor unbestimmter Zeit in den Dünen des Weissenhäuser Strandes verschütt ging - gar nicht weit von hier!“ feixt er verschwörerisch. „Das Stück ist an sich nicht von großem Wert, obwohl es aus filigran ziseliertem Hacksilber besteht und auch die schwarze Perle im zentralen Element eine gewisse Seltenheit besitzt. Für uns jedoch ist es ein kostbares Kleinod, da wir dieses Schmuckstück eindeutig der Familie Lafarvour zuordnen konnten, einer alten französischen Händlerfamilie, die in alten Handelsregistern auch als LeFavre auftaucht. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man sogar das eingeprägte Familienwappen unterhalb der Perleneinfassung.“ Er fuhr fort:
„Unsere Nachforschungen brachten ganz Erstaunliches zutage. Möchte man den spärlichen Quellen glauben, so war das Collier einst im Besitz der Tochter des Hauses LeFavre, die, genau wie ihr Ehemann, auf tragische Weise ums Leben gekommen zu sein scheint. Auch verliert sich die Spur der Familie LeFavre ab einem bestimmten Zeitpunkt ganz plötzlich und es existieren keinerlei vermerke über Geschäfte, Grundbesitz oder Nachkommen mehr. Sucht man den Grund für den Niedergang des Familiengeblüts, so scheint dieses Schmuckstück im Zentrum der Tragödie zu stehen, denn angeblich liegt auf der schwarzen Perle im Herzen dieses Halsschmucks ein Fluch. Grund zu dieser Annahme geben vorrangig zwei Quellen: Einerseits ein Briefwechsel zwischen dem Oberhaupt der Familie und einem Handelspartner, der der Familie sehr nahestand und andererseits ein betagtes Tavernenlied, das mündlich überliefert wurde und nicht zuverlässig datiert werden kann. Beides finden sie in Auszügen in den Schaukästen rechts und links des Exponats.“ Fahrig deutete er in Richtung der Ausstellungsstücke, ganz als ob er nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die gerade noch anmoderierten Exponate lenken will. Er wendet sich ab und huscht zum Durchgang in den nächsten Raum hinüber. „Im nächsten Saal erwarten uns nun ein paar sehr interessante Ausgrabungsstücke der…“
Schlafwandlerisch trete ich auf den linken der beiden Schaukästen zu, während das Fischgrätenparkett unter meinen Sohlen leise knarzt. In der Vitrine befindet sich ein angehefteter Briefwechsel. Dieser scheint ein Original zu sein: Das Papier ist vergilbt und fleckig, die Tinte an vielen Stellen verblasst und rote Abdrücke an den unteren Rändern weisen Spuren von etwas auf, das Siegelwachs sein könnte. Mein Blick heftet sich an die edel geschwungenen Zeilen:
Geehrter Gaspard,
seid gegrüßt in dieser Stunde. Eure Nachrichten werden stets mit Freude empfangen, und ich hoffe, diese Zeilen erreichen Euch in Wohlsein und Gedeihen.
Die Geschäfte laufen, auch abseits unserer beider Übereinkommen, vortrefflich und ich kann mich glücklich schätzen Zeit für ebendiese Zeilen zu finden, werde ich doch an einem halben Dutzend Orte gleichzeitig verlangt.
In dieser Zeit wehen die Winde des Schicksals wahrlich unergründlich und der Herr scheint in Wohlwollen auf meine Familie herabzublicken, ließ er doch dem Gemahl meiner Tochter Isabelle eine höchst bemerkenswerte Beute in seine Netze fallen: Eine schwarze Perle, von ungewöhnlicher Gestalt und Schönheit! Ein ganz außergewöhnliches Kleinod, fehlt ihre Art doch ansonsten gänzlich in diesen Gewässern. In Geste der Huldigung und Zuneigung überreichte mein Eidam selbige Isabelle und seit jenem Tage ist diese Perle zu ihrem steten Gefährten geworden.
Ihr Glanz und ihre Pracht scheinen sie verzaubert zu haben, und sie hütet sie wie einen Schatz von unermesslichem Wert. Es ist, als ob sie von einer höheren Macht berührt worden sei, denn ein jeder Blick, den sie auf diese Perle wirft, zeugt von einer tiefen Verbindung. Mit ihrer Erlaubnis werde ich die Kostbarkeit in eines unserer Familienerbstücke einsetzen lassen, ich denke da an das Silbercollier meiner Urgroßmutter aus Verdun. Das wird ihr sicher Freunde bereiten.
Ich hoffe, dass eine baldige Zusammenkunft Gelegenheit bieten wird, über weitere geschäftliche Belange zu parlieren, muss ich doch weitere Details zu den aktuellen Lieferungen derweil vertagen.
In Dankbarkeit und Verehrung,
BenoitHochverehrter Gaspard,
Gegrüßt sei dir in diesen Zeilen. Die Lieferungen erreichten unser Tor sogar vor der vereinbarten Zeit! Vor allem die Kaffeebohnen sind von außergewöhnlicher Güte! Mein Herz erhebt sich in Dank, der dir erneut gewiss sein soll.
Dein Bemühen um Isabelle ehrt dich, edler Gaspard. Doch in dieser Angelegenheit ruht ein schweres Unbehagen auf meinen Schultern. Das Gemüt meiner Tochter wendet sich wie die See – bald aufbrausend, bald tief in sich gekehrt und frostig. Mahlzeiten rührt sie kaum noch an, und ohne Vorwarnung begibt sie sich auf plötzliche Reisen, ohne auch nur ein Flüstern ihres Vorhabens ihrem Gemahl zukommen zu lassen. Ihr armer Ehegatte, dem ihre Taten Rätsel aufwerfen, sieht sich hilflos in seiner Ungewissheit. Und wahrlich, auch ich finde mich in dieser Unklarheit verloren. Während sie ihrem Äußeren wenig Sorge schenkt, trägt sie das Perlencollier ohne Unterlass. Gegen ihre Mutter ist ihr Herz ungebührlich rau, während kaum ein Wort zwischen mir und ihr den Weg findet. Dies alles weckt in mir eine lodernde Unruhe.
Und als wäre dies nicht schon genug, entdecken wir an unseren treuen Rossen absonderliche Zeichen der Plage, als hätten finstere Hände ihnen Leid zugefügt. Gestern, dem vorrückenden Tag, entdeckten wir sogar eine verendete Katze in des Hofes Trog – ihr Innerstes grausig bloßgelegt. Ein Unhold schleicht sich hier im Verborgenen umher, und ich hege den eisernen Entschluss, ihn vor den Richtstuhl der Gerechtigkeit zu rufen!
Schaue nur, wie vielerlei Sorgen mich umranken. In dem Wissen um die Unwägbarkeiten des Lebens hoffe ich, dass deine Tage von geringerer Mühsal sind. Eine Antwort deiner Feder entgegensehend, verbleibe ich,
voller guter Wünsche,
BenoitGaspard,
dunkel sind die Tage und finster die Zukunft, während ich dir diese Zeilen verfasse. Ich muss dich bitten vorerst alle Lieferungen auszusetzen und unsere Geschäftspartner zu vertrösten, denn Tragödie hat in unser Haus Einzug erhalten.
Meine Tochter ist verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zwei Wochen sind ins Land gezogen und ich habe Grund zur Annahme, dass sie nicht mehr unter uns weilt. Meine Hände zittern während ich diese Worte zu Papier bringe - Ihr Mann, der gute, gütige Klaas, wurde jüngst gefunden, sein Körper zerbrochen und an den Dachfirst ihres Hauses geschlagen, beinahe wie unser Herr Jesus Christus. Welch abscheuliche Tat! Wer vermag solch Gräuel zu begehen? Welch Abgründe birgt solch Ungeheuer? Ein Teufel schleicht durch die Dünen, Gaspard! Er legt Feuer an unsere Getreidespeicher und das Gesinde entschwindet ohne einen Laut! Noch heute werde ich Amelia in die sicheren Mauern der Stadt geleiten und mich mit einer Hundertschaft auf die Suche nach unserer Tochter begeben.
Bete für uns, Gaspard. Flehe zum Herrn, dass wir unsere Tochter finden mögen.
Benoit
Bütteldepesche an die ehrenwerte Hochgerichtsbarkeit des Bistums Oldenburg
Selbst nach erneuter und gründlicher Inspektion der Brandruinen des Anwesens offenbart sich nach wie vor keine klare Erkenntnis über den Ursprung dieser verhängnisvollen Nacht. Keine weiteren Gebeine als die beiden, die vermutlich von den Oberhäuptern des Hauses stammen, wurden entdeckt. Ob das Feuer ein Unglück oder Heimtücke war, bleibt verborgen, wohl ob das Fehlen jeglicher Zeugen aus dem Gesindelager, ob lebendig oder tot, verwunderlich ist. Das Anwesen wurde durch die Flammen restlos geschliffen und weitere Erkenntnisse sind nicht zu erwarten.
Von der Tochter der Familie, Isabelle Lafarvour, fehlt weiterhin jede Spur.
Das Saallicht erlischt. Die letzten Zeilen stehen wie eingebrannt auf dem nachtschwarzen Hintergrund meines Gesichtsfeldes. Rote Buchstaben, die langsam anfangen zu verblassen…
“Von der Tochter der Familie, Isabelle Lafarvour, fehlt weiterhin jede Spur.”
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Kapitel V. – Die letzte Fahrt der Seelenbrecher
Verfasst von: Christian von Aster
Viele der Geschichten über das, was einmal im Jahr am Ostseestrand unweit des Gutes Weissenhaus geschieht, sind vom Aberglauben der Küstenbewohner geprägt, andere wieder von den Vorlieben der Zuhörer für Liebes- oder Schauergeschichten. Ein Großteil dieser Erzählungen hat sich immer wieder verändert. Hier geriet etwas in Vergessenheit, und dort wurde etwas dazugedichtet, so dass heute das Wirkliche vom Erdachten kaum noch zu unterscheiden ist. Aber eben das ist das Wesen solcher Geschichten. Sie leben, sind in steter Bewegung und verändern sich. Abgesehen vielleicht vom Kern des Ganzen: In diesem Fall die Legende eines Strandes, der sich einmal im Jahr schwarz färbt und das Schicksal zweier tragischer Figuren, deren Geschichte untrennbar mit ihm verbunden ist. Während die meisten der erwähnten Erzählungen sich um das Schicksal der bedauernswerten Isabelle LeFavre drehen, ist doch das ihres Mannes für die Legende des schwarzen Strandes nicht minder bedeutsam. Und auch über ihn gibt es mehr als eine Geschichte ...
Ursprünglich Sohn eines Fischers und bald nach seiner Heirat aus der Not heraus gezwungen, sich der Piraterie zu verschreiben, erinnert sich heute niemand mehr an seinen eigentlichen Namen. Der Nachwelt ist er allenfalls noch als der kalte Klaas bekannt. Dieser Name, ihm einzig aufgrund seines eisigen, an das sturmgepeitschte Meer an einem trostlosen Wintertag gemahnenden Blickes zuteil geworden, war bald überall ebenso bekannt wie gefürchtet. Und gemeinsam mit seinen Männern machte er, während die Hochzeit der Seeräuberei lange schon vorüber war, an Bord der Seelenbrecher, eines Dreimasters unter schwarzer Flagge, die Ostsee unsicher. Dabei verstand er genug von Seefahrt und Wind, dass er bald auch das nötige Maß an Strategie und Skrupellosigkeit erlernt hatte, das es brauchte, um ein erfolgreicher Seeräuber zu sein. Doch gab es auch einiges, das ihn von anderen seiner Art unterschied: zum einen seine Mannschaft, eine verschworene Gemeinschaft aus den Wunderlichen, Sonderbaren und Ausgestoßenen, die kaum mehr als einander und den Willen hatten, dem Diesseits ein lebenswertes Leben abzutrotzen.
Außerdem ließ es sich der kalte Klaas bei allem Geraube und Geplünder auch nicht nehmen, einmal im Jahr an den heimischen Strand zu seiner geliebten Frau zurückzukehren, um gemeinsam mit ihr für eine Nacht die Hoffnung auf ein Leben jenseits der Gesetzlosigkeit zu hegen.
Und zuletzt hatte er sich, ob er auch Dutzende Schiffe zum Meeresboden und manch Seele gen Himmel gesandt hatte, ein Maß an Anstand bewahrt, wie selbst gute Menschen es nur selten besitzen. Er war dafür bekannt, sich der Besatzung gekaperter Schiffe gegenüber so korrekt wie möglich zu verhalten und Gefangene gut zu behandeln.
Vermutlich hätten er und seine Frau, hätten die Winde des Schicksals ein wenig günstiger nur gestanden, ein gänzlich anderes Leben geführt. Stattdessen jagten jene Winde ihn und seine Mannschaft über das Meer und ließen sie von einer Untat zur nächsten irren, bis besagte Winde zu einem Sturm heranschwollen, der die Seelenbrecher ins Verderben trieb …
Im Anschluss an ihre wohl größte Kaperfahrt hatte die Seelenbrecher bereits Kurs auf die Heimat gesetzt. Ihre Beute, von der man sagt, dass sich auch eine einzigartige Perle vollkommener Schwärze darunter befunden habe, war so üppig, dass Klaas und seine Männer sich womöglich wahrhaft zur Ruhe hätten setzen können. Da aber geriet das Schiff, keinen Tag von der Heimat entfernt, in ein Unwetter, wie es ärger keines hätte geben können.
Inmitten eines grellen Gewitters und eines tosenden nächtlichen Regens, der wie ein dicht gewobener Vorhang eisiger Klingen über dem Schiff niederging, wurde die Seelenbrecher, während die Schreie der Mannschaft in Sturm und Donner untergingen, von einem Blitz getroffen. Und ob auch der Schaden, den sie dadurch nahm, erheblich war, vermochten der kalte Klaas und seine Männer das Schiff doch zusammen- und auf Kurs zu halten.
Bis ein weiterer Blitz den Hauptmast traf, dieser barst, umstürzte und fünf Männer erschlug.
Der dritte Blitz schließlich war derart hell, dass er selbst hundert Seemeilen entfernt an Land noch zu sehen gewesen sein muss. Und dieser letzte besiegelte nun auch das Schicksal der Mannschaft. Er riss das Schiff in zwei Teile und war dabei alles andere als Zufall: Denn jene Blitze hatte, bestrebt, sich die Seele des kalten Klaas zu holen, niemand geringeres als der Teufel selbst geschickt!Drei Blitze. Ein dunkles Zerrbild der göttlichen Dreifaltigkeit. Und so klang auch der nachfolgende Donner, als ob ein dunkles, böses Lachen direkt aus der Hölle emporhallte.
Kurz darauf aber zeigte sich, dass der Plan des Teufels nicht so einfach aufgehen würde. Als nämlich der kalte Klaas dort an jener Schwelle stand, die das Diesseits von der Nachwelt trennt, und der Teufel seine schwarze Seele in die ewige Verdammnis hinabschleudern wollte, da stellte sich ihm plötzlich der Herrgott in den Weg.
Nun mag es auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinen, dass diese beiden sich um die Seele eines Mannes streiten, der zahlreiche Übeltaten begangen und so viel Schuld auf sich geladen hat. Da aber der Herrgott, was das Vergeben angeht, ebenso emsig, wie der Teufel mit dem Verdammen ist, und weil er wusste, dass der kalte Klaas stets bemüht gewesen war, ein möglichst korrekter Seeräuber zu sein, war der Allmächtige nun der Meinung, diese Seele mit ein wenig Wohlwollen auch gen Himmel fahren lassen zu können.
Was der Teufel freilich anders sah.
Und so begannen beide nun um die Seele des Piraten zu streiten. Eben das hätten sie wohl noch sehr lange getan, wenn nicht der kalte Klaas ihnen einen Vorschlag unterbreitet hätte: nämlich, um seine Seele zu würfeln. Wobei er, um das Spiel ein wenig spannender zu machen, auch selbst mit um sie spielen wollte.So etwas war nun allerdings keinesfalls üblich. Weil aber der Teufel und der Herrgott keine andere Lösung wussten und Glücksspiel ihnen ein wenig Abwechslung verhieß, ließen die beiden sich nicht lange bitten, stimmten zu und begannen, weil der kalte Klaas zufällig auch ein paar Würfel dabei hatte, alsgleich, um seine Seele zu würfeln.
Was nun folgte, war das wohl seltsamste Würfelspiel, das jemals zwischen Diesseits und Jenseits vonstattenging.
Es wurde wilder mit jedem Wurf. Immer wieder wechselte das Glück und lange, lange hätte man nicht sagen können, wer am Ende gewinnen würde.
Aber man ahnt gewiss, wie dieses kühne Spiel am Ende ausging. Weil doch in solchen Geschichten stets der gewinnt, der die geringsten Chancen hat.Und so erstritt der kalte Klaas sich von höheren Mächten das Recht, auf wundersame Weise überlebt zu haben. Was allerdings weniger mit Glück als vielmehr mit gefälschten Würfeln zu tun hatte, wie sie ein jeder gute Pirat stets bei sich zu tragen pflegt.
Da aber weder Gott noch Teufel – was immer man sonst auch über sie sagen mag – dumm sind und zumindest einer von beiden dazu noch allwissend ist, entging dieser Betrug ihnen nicht. Und so war klar, dass Klaas allein dieses Betruges wegen schon zur Hölle fahren würde. Da gab es keine Frage. Und da half es auch nicht, dass der Verdammte es einzig der Liebe wegen getan hatte und um zu seiner Frau heimkehren zu können, die er in der Hölle gewiss nicht wiedersehen würde.
Doch obwohl seine Seele verloren war, hatte der kalte Klaas mit seinem falschen Spiel sowohl den Herrn der Hölle als auch den des Himmels beeindruckt. Weil einer, der zugleich den Herrgott und den Teufel zu betrügen wagt, doch ein redlich Maß an Schneid besitzen muss.
Und das machte die ganze Angelegenheit zu einer Sache jenseits von Gut und Böse, die sich dem gewöhnlichen Schiedsspruch entzog und die gewürdigt zu werden verdiente. Und ob es auch nicht dazu reichte, den kalten Klaas der ewigen Verdammnis zu entreißen, so beschlossen Gott und Teufel doch, ihm diese, weil er ein aufrichtiger Halunke war, ein wenig erträglicher zu machen.
Um ihn für seinen Wagemut und sein wahres inneres Wesen zu belohnen, schenkten Gott und Teufel dem Piraten und all jenen, denen ein aufrechtes dunkles Herz gegeben ist, eine besondere Nacht. Eine Nacht pro Jahr, in der er am heimatlichen Strand seine Frau wiedersehen durfte und zu der sich die Tore zwischen den Welten öffneten. Eine Nacht, die in jedem Jahr eine andere und all jenen zugedacht ist, die im Leben weder Gott noch Teufel zu gefallen suchen.
Seit der kalte Klaas seine Frau zum ersten Male wiedersah, hat sich vieles getan. Längst haben die Anderen, die Sonderbaren von dem gehört, was einmal im Jahr an jenem Strand möglich wird. Von Mal zu Mal werden es mehr und sie kommen von überall her, um gemeinsam jene Nacht zu begehen, in der die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits verwischen, die Sprache der Vernunft verstummt und die Gesetze dieser Welt bis zum Morgen keinen Bestand mehr haben.
Und eben das ist das Geheimnis jenes Strandes. Von dem niemand sagen kann, ob das Schwarz jener Nacht wirklich das geheimnisvoller schwarzer, über das Weiß des Sandes wuchernder Flechten ist, oder ob es womöglich doch von den dunklen Mänteln und Kapuzen jener herrührt, die kommen, um Teil jener einzigartigen Zusammenkunft zu sein. Es heißt sogar, dass Gott und der Teufel selbst sich bisweilen einen schwarzen Mantel überwerfen, um heimlich unter den Andersartigen am Strand zu weilen.
Was immer aber auch sonst in jener Nacht passiert: Jedes Jahr aufs Neue liegen Isabelle LeFavre und ihr Mann sich, während der Strand sich schwarz färbt, in den Armen und trotzen dem Leben jene wenigen Stunden ab, die der Pirat, da er Gott und Teufel zugleich zu betrügen versuchte, einst für sich, seine Liebe und alle Andersartigen erstritt.
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Kapitel IV. – Ort der Macht
Fahrig Wind birgt wahrlich Kund,
der Ewigkeit zu Ehr.
Eng umschlungen schwärend Wund
treibt Odem vor sich her.
Was vergangen ist und gegangen bleibt
und nicht selten sich doch einverleibt
legt sich dräuend über das Meer.Vergang’ner Ort, vergilbte Zeit
doch heilig Ornament.
Berauscht die Sinne, kündet Leid
und friert, was dato brennt.
Knochen der Erde mit Glorienschein,
tief in dem Schoße von Dünengebein
liegt gemein was selbst ein Gott nicht trennt.Drum nimm den Segen, Wand’rer klein
und leg dich sanft zur Ruh.
Kein zornig Hand kann drohlich sein
dem Mond wend dich nun zu.
Denn schwarz dein irden Bett sich schmiegt,
die fahle Maid dich schweigend wiegt
in Schlafes Bruders Stund. -
Kapitel III. – Der Preis des Wissens
Die Geschichte der Parapsychologie ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Sie ist ein Geflecht aus Befindlichkeiten, Halbwissen, Aberglaube, falschem Stolz, sowie einer großen Portion Wagemut, garniert mit einer Prise Verwegenheit. Findet man die innere Balance und blättert durch die Ausgaben einschlägiger „Fachmagazine“ wie der „Metaphysics Today“, dem „Spirit Mirror“ oder der „Beyond Bulletin“, so wird man den ein oder anderen Artikel über ein ganz bestimmtes übernatürliches Phänomen entdecken, das die Gemüter parapsychologischer Zirkel seit Jahrhunderten erregt, aber niemals eingehend erforscht wurde. Artikel über dieses Mysterium sind stets vage, fast als ob der jeweilige Autor nicht den Mut findet, das Thema genauer als nur aus den Augenwinkeln zu betrachten. Möglicherweise liegt es an der journalistischen Unfähigkeit der Schreiber oder an der spärlichen Faktenlage, dass es das Mysterium nie auf die Titelseiten dieser Welt geschafft hat, aber vielleicht ist der Grund auch, dass ein großer Teil der Autoren kurz nach Erscheinen ihrer Artikel entweder krank wurden, seltsame Unfälle erlitten, oder aus unerfindlichen Gründen verschwanden…
In diesen Artikeln ist die Rede von einer Geheimgesellschaft hoheitlicher Lords und Ladies, namens „Gesellschaft der Metaforschung“ oder auch „Turba Spirituum“, die es sich im frühen 19. Jahrhundert zur Aufgabe gemacht hatten, okkulte Schriften zu archivieren, magische Artefakte zu sammeln und übernatürliche Phänomene zu erforschen. Sie glaubten unumstößlich an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und daran, dass das Gewebe der Realität viele Taschen aufweist, in denen sich Energien verfangen können. Diese zu ergründen war der vornehmste Auftrag, dem sich die Turba Spirituum verschrieben hatte.
Angeblich war die vermutlich fünfköpfige Gesellschaft, bestehend aus zwei Ladys und drei Lords aus wohlhabendem Hause, in der Vergangenheit nicht vollkommen erfolglos geblieben, denn sie verfügte über beachtliche finanzielle Mittel, einen Zweifelhaften Ruf in der Londoner Oberschicht und genoss hohes Ansehen in einschlägigen Kreisen. Angeblich hatten Experimente mit alten skandinavischen Runen zu einer Beeinflussung des Wetters geführt, was, wenn man das Londoner Wetter kennt, nicht unbedingt etwas bedeutet.
Eines Tages stieß die „Gesellschaft der Metaforschung“ auf ein vielversprechendes Phänomen, das eine ländliche Gegend an der Schleswig-Holsteinischen Gestaden heimsuchte. Legenden erzählten von einer Geistererscheinung, die immer dann auftauchte, wenn sich der Sand des Weißenhäuser Strandes schwarz färbte. Die Turba Spirituum hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine Erscheinung, einen Geist oder eine anderweitig diesseits manifestierte Energie einzufangen und eingehend zu erforschen – zum Wohle der Menschheit! Dass dieses noble Bestreben in einer schrecklichen Tragödie enden sollte, konnten die Lords und Ladys jedoch nicht ahnen…
Eine Expedition wurde zusammengestellt, Gerätschaften behutsam verpackt und Ausrüstung verschifft. Nur wenige Wochen später traf der Forschertrupp in Wangels ein, der Gegend, in der die Erscheinung am häufigsten gesehen worden sein soll. Das Hauptquartier der Expedition wurde im Salon einer Pension aufgeschlagen, ein Gasthaus in einer alten weißen Villa, in direkter Nähe zum Weißenhäuser Strand. Die Betreiber der Pension wunderten sich über das Tohuwabohu der gut ein Dutzend Angestellten der Expedition, die die Gemächer der Turba herrichteten, Karten auf Tischen ausbreiteten und seltsame tickende, qualmende und leuchtende Gerätschaften im Salon aufbauten. Ein weiteres Basislager wurde direkt am Weißenhäuser Strand errichtet und mit der Beobachtung des Sandes beauftragt.
Die Wochen zogen ins Land und aus dem späten Winter wurde früher Frühling. Die Beobachtung des Strandes hatte bisher keine Besonderheiten zutage gebracht und die Crew, die ihre Zeit in dem Zeltlager verbrachte, wurde zunehmend müßig. Also entschied Expeditionsleiter und Vorstand der Turba Spirituum, Dr. Huxley van Sant, Nachforschungen unter den Einheimischen anzustellen. Nach einer Nacht in den örtlichen Hafenkneipen, die nicht allzu viel Brauchbares zutage befördert hatte, kehrte van Sant in den Morgenstunden in das Landhaus zurück. Die Einheimischen sprachen nicht gerne mit Fremden und die Brocken der Geschichte, die er unter Einsatz einer Menge Schnaps hervorlocken konnte, beschränkten sich auf besoffenes Geschwätz über Teufel, Höllenhunde, ein Geisterschiff und einen Namen: Isabelle LeFavre. Gerade bog van Sant auf den Kiesweg hinauf zur Pension ein, als ihm schon sein Kollege Lord Fauntleroy entgegen hastete, in heller Aufregung und mit vor Panik ringenden Händen. Er eröffnete van Sant, dass die gesamte Crew des Basis-Zeltlagers Hals über Kopf das Weite gesucht hatte. Nur einer der knapp ein halbes Dutzend Männer, die dort die Stellung halten sollte, war zur Pension zurückgekehrt, in das Foyer gestürmt um seine Bibel zu holen und konnte nur unter massivem körperlichen Einsatz dazu gebracht werden, zu erklären was geschehen sei. Nach einer Menge ermutigender Worte und ein paar Gläschen Cherry erklärte der Mann, dass es ein Abend wie jeder andre im Basiscamp gewesen sei. Die Männer hätten am Lagerfeuer gesessen, getrunken und Lieder gesungen, bis sich plötzlich etwas veränderte. Die Runde verstummte und sah in das Feuer, das zwar noch immer vor sich hin knisterte, aber in einem grellen blau brannte. In diesem Moment würgte einer der Männer, der gerade noch in einen Apfel gebissen hatte und spuckte einen Mundvoll Würmer in den Sand. Gleich darauf brach das Zelt über den Köpfen der Gruppe zusammen, da der Zeltmast von einem Moment auf den anderen morsch und brüchig wie Pergament geworden war. Der Wein war nur noch Essig, Seile rissen plötzlich und als einer der Mannschaft seinem Schrecken Ausdruck verleihen wollte, fielen ihm alle Zähne wie Murmeln aus dem Mund. Erst in diesem Moment bemerkten die Männer, dass der Sand seine natürliche Farbe verloren hatte und schwarz wie ein Leichentuch unter ihren Füßen lag.
Nach diesem Bericht hatte der Mann seine Bibel fest an sich gedrückt, sich die restliche Flasche Cherry geschnappt, machte es dem Rest seiner Kameraden gleich und stürzte panisch in die Nacht hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Einerseits bestürzt über den Verlust der Crew, andererseits höchst erfreut über den ersten Hinweis auf paranormale Aktivitäten, schleifte van Sant den noch immer besorgten Fauntleroy in den Expeditionsaal der Pension, um mit den restlichen Mitgliedern der Gesellschaft das weitere Vorgehen zu besprechen. Besonders die Marquess Winterborough zeigte sich überaus euphorisch und hatte bereits die nötigen Gerätschaften zusammengepackt, um ein Spektogramm des Phänomens zu erstellen und somit weitere Daten über die Heimsuchung zu sammeln.
Die Enttäuschung war groß, als die Gesellschaft herausfand, dass der Sand des Weissenhäuser Strandes eine völlig normale Färbung hatte. Auch die dampfenden und blinkenden Spektografen der Marquess zeigten keinerlei Spuren paranormaler Energien auf und Lady Agatha Flittmore war es, die die Vermutung anstellte, dass der Sand eventuell nur des Nachts seine Farbe änderte. Sie richtete sich und ihr portables Chemikalienlabor im Strandlager ein, um weitere Untersuchungen anzustellen.
Lord Fauntleroy, seines Zeichens Experte für Runen und alte Schriften, wollte sein Glück in einer nahe gelegenen Bibliothek versuchen, um eventuell alte Schriftstücke und Folklore über das Mysterium zutage zu fördern. Lord Knobwood, der fünfte im Bunde der Turba Spirituum, blieb bei Lady Flittmore, um ihr bei den Untersuchungen zu helfen und van Sant und Lady Winterborough machten sich zurück auf den Weg zur Pension. Sie wussten nicht, dass dies das letzte Mal sein sollte, an dem sich die „Gesellschaft der Metaforschung“ lebendig gegenüberstand.
Van Sant und Winterborough waren stundenlang unterwegs. Sie streiften kreuz und quer durch die Marschen und folgten jenen bekannten Wegen, die sie üblicherweise zu ihrem Gasthaus geführt hätten, doch jedes Mal, wenn sie sich sicher waren an der Stelle zu sein, an der das weiße Gasthaus gestanden hatte, kündete nur der verwitterte Stumpf von etwas, das wohl mal ein Schornstein gewesen sein mag, von Zivilisation. Obwohl es völlig unmöglich war, dass eine weiße Villa in den Dünen einfach so verschwand, gaben Winterborough und van Sant schließlich auf und machten sich auf den Weg zurück zu ihren Kollegen an den Strand, während die Nacht hereinbrach.
Die erste, die sie fanden, war Lady Flittmore. Zuerst erkannten sie sie nicht, da die Leiche, die in einem zum Trocknen aufgehängten Fischernetz hing, schneeweißes Haar hatte. Sie schien in Panik durch den Nebel losgelaufen zu sein und hatte auch dann nicht aufgehört zu rennen, als sie sich bereits in dem Netz verfangen hatte. Die feinen Schnüre des Netzes hatten so tief in ihre Haut geschnitten, dass sie schließlich Sehnen reißen ließen und ihre Schlagadern geöffnet hatten.
Auch wussten van Sant und Winterborough zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Lord Fauntleroy in der nahen Bibliothek zwar fündig geworden war, aber aus unerfindlichem Grunde irgendwann angefangen hatte Seiten aus dem Folianten, den er gerade studierte, herauszureißen und sich in den Rachen zu schieben. Er hatte so lange weitergemacht, bis er schließlich an dem Papier erstickt war.
Van Sant musste die erschütterte Marquess Winterborough auf dem Weg zum Strandlager stützen, als sie durch den Nebel die entfernten Umrisse Lord Knobwoods auf der Überseebrücke entdeckten. Knobwood stand wie versteinert an der Spitze der Brücke, sein lockiges Haar nun schneeweiß. Van Sant schnappte sich eine brennende Laterne, als er durch das Lager rannte und versuchte seinen Freund zu rufen. Doch wie durch einen sanften Schubs kippte die korpulente Figur Lord Knobwoods vornüber und fiel wie ein Stein in die sprühende Gischt der fauchenden Ostsee. Ungläubig blieb van Sant stehen und starrte durch die Nacht auf die Stelle, an der sein Freund gerade noch gestanden hatte, als er bemerkte, dass die Petroleumlampe in seiner Hand nicht gelb, sondern blau brannte. Van Sant schwang herum, nur um entsetzt dabei zuzusehen, wie sich eine geisterhafte Gestalt durch das Dünengras auf die Marquess Winterborough zubewegte. Die mit dem Rücken zur Erscheinung gewandte Marquess fummelte an einer seltsamen Apparatur herum, die nicht das zu tun schien, was sie von ihr erwartete. Van Sants ängstlicher Schrei muss sie aus ihrer Unachtsamkeit gerissen haben, jedenfalls schreckte sie in dem Moment hoch, als das leichenfahle Geschöpf sie berührte. Gleichzeitig zerriss eine grüngrelle Explosion die Luft, die Huxley van Sant von den Füßen riss und für einen Moment geblendet im Sand liegen ließ. Benommen und halb blind versuchte er die Petroleumlampe zu finden, deren Flamme wieder die Farbe normalen Feuers angenommen hatte, bis er schließlich ihren metallenen Haltebügel ertastete. So schnell es ging stolperte er zurück und fand die Marquess inmitten eines sandfarbenen Kreises liegen. Außerhalb dieses Kreises war der Sand tiefschwarz, so als habe die Explosion ein Loch in die dunkle Flechte gerissen. Marquess Winterborough hatte die Augen weit geöffnet und ihr nun schneeweißes Haar umwehte ihr feines Gesicht wie Spinnweben. Ihr fehlte eine Hand, die, wie sich später rausstellte, eine Weihwasserdampf-Granate gehalten hatte, eine Eigenkreation der Marquess zur Vertreibung von Dämonen. Von dem Geist selbst fehlte jedoch jede Spur.
Was danach geschah ist leider nicht mehr ausreichend dokumentiert. Man sagt, dass Marquess Winterborough noch einige Jahre in einem Sanatorium lebte, aber nie wieder aus ihrem katatonischen Zustand erwachte. Dr. Huxley van Sants Spuren verlieren sich an dem schicksalshaften Tag. Manche sagen, er habe Selbstmord begangen, andere berichten, dass er die Turba Spirituum alleine im Geheimen weiterführt. Wer weiß, vielleicht wissen wir eines Tages mehr…
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Kapitel II. – Seemannsgarn
Seemannsgarn gibt es vieles. Das meiste ist gesponnen aus Hörensagen, Halbwahrheiten, Geschichte, Aberglaube und meistens einer Menge Rum. Doch das beste, das stärkste Seemannsgarn birgt immer auch einen Funken Wahrheit in sich. Und dieser Funken ist es, der einen des Nachts kein Auge zu machen lässt. So etwas bekommt man nicht bei denen, die am lautesten grölen. Man halte Ausschau nach dem gedrungensten Seefahrer, der einsam am entlegensten Tisch oder am hintersten Ende der Theke der Schankwirtschaft sitzt, das Gesicht faltig wie altes Leder, mehr grau als Farbe im Bart, die mächtige Faust schweigend um das Glas Rum gelegt, das die ganze Nacht nicht leer zu werden scheint, obwohl er stetig daran nippt. Die Augen stets auf den Boden des Glases oder der unsichtbaren Welt dahinter gerichtet. Augen, die viel zu viel gesehen haben, als dass ihr Besitzer nicht längst schon mit dem Diesseits abgeschlossen hätte. Das ist die Art Mann, die man sucht. Und wenn man Glück hat, bereit ist eine Zeit gemeinsam zu schweigen und dafür sorgt, dass der Boden des Rumglases niemals trocken wird, dann erfährt man die erstaunlichsten Dinge…
Ob man denn schon am Wasser war, wird man vielleicht gefragt. Nein nein, nicht wie die Landratten zu Tage, mit ihren lärmenden Kindern und ihren Fotoapparaten, sondern dann, wenn die See spricht – des Nachts. Oder in der nebligen Morgendämmerung, wenn die Klage der unheilvollen Geheimnisse des Meeres von den geisterhaften Nebeln der Verheißung eines neuen Tages abgelöst wird. Nein, des Nachts beliebe man zu schlafen oder zu trinken, antwortet man dann eventuell und erntet damit nur einen ernsten Blick. „Gut“ grummelt es dann womöglich aus dem dichten Bart hervor, denn dieser Tage sei das kein Ort für Landratten.
„Warum?“ hört man es der eigenen Zunge entfleuchen, vom Schnaps etwas zu gelöst „Ist Erkältungssaison?“ Der Blick des Mannes taxiert einige Zeit schweigend sein Gegenüber aus dem Schatten seines Elbseglers heraus. Gerade als sein Blick unangenehm zu werden beginnt, wendet er sich wieder dem Boden seines Glases zu und raunt: „Die Seelenbrecher wurde gesehen“. „Was soll das sein?“ fragt man dann eventuell verwundert. „Ich weiß nicht viel. Nur so viel, dass ich mich auf Teufel komm raus von der Mole fern halte in Nächten wie diesen.“, murmelt er und nimmt einen großen Schluck. „Angeblich ist die Seelenbrecher ein aufgebrachter Schoner aus dem nordischen Krieg. Piraten, verstehst Du? Die Dänischen, Schwedischen und Schleswig-Holsteinischen Flotten zerrieben sich gegenseitig in ihren Territorialkämpfen, die Ostsee färbte sich rot vom Blute der Erschlagenen und die Landbevölkerung darbte und starb an Hunger und ein jeder kämpfte ums Überleben. Das war auch die Zeit, in der die Seeräuberei explodierte, aus der Not der Menschen heraus, kapierst Du das?“ Man vermag dann nur zu nicken, während man dem Wirt deutet, dieses Dock hier um Himmels Willen nicht trocken fallen zu lassen. „Viele Leben fielen den Piraten zum Opfer und viele Piraten landeten am Strick durch die Flotten der drei verfeindeten Länder, doch eines der Piratenschiffe hatte einen ganz speziellen Ruf, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand oder in der Kajüte sprach. Es hieß, es bringe Unglück, den Namen an Deck auszusprechen…
Seelenbrecher... Er schaute sich verstohlen um und ich hörte, wie seine geschwollenen Fingerknöchel drei Mal auf dem dunklen Tresen aufschlugen. „Meine eigene Großmutter erzählte mir, dass sich niemand an den ursprünglichen Namen des Schoners erinnert, doch dass es Geschichten gäbe, dass das Schiff irgendwann in ein Unwetter geriet und schwer angeschlagen viele hundert Seemeilen abgetrieben wurde und für viele Jahre verschwand. Angeblich drohte es zu sinken und der Kapitän, ein ehemaliger Fischersjunge, flehte die Götter an, dass sie sein Schiff und die Mannschaft verschonen mögen. Er hatte eine Frau an den Gestaden von Schleswig-Holstein und hatte Ihr versprochen, zu ihr zurück zu kehren, eine schwarze Perle in den Händen. Die Götter erhörten sein Wehklagen und sie schauten in sein Herz. Sie sahen das Blut, das an seinen Händen klebte und die Verderbtheit in seiner Seele, aber auch den reinen Funken im Herzen dieses Mannes, der die Liebe zu seiner Frau Isabelle war.
Und so kehrte das Schiff viele Jahre später zurück an die hiesigen Gestade. Selten, und nur des Nachts oder in der nebligen Morgendämmerung konnte man schwarze Segel am Horizont sehen und hörte das entfernte Knarzen der Takelage. Den Namen „Seelenbrecher“ hat ihm das Küstenvolk gegeben, da in den Nächten, in der der Schoner gesehen wurde, immer wieder Menschen verschwanden, die unachtsam zu nahe ans Wasser gekommen waren.
Der teuflische Pakt mit den Göttern verschonte das Leben der Mannschaft. Sie schickten die Seelenbrecher zurück auf See, doch war sie nun auf Ewigkeit dazu verdammt, die Ostsee zu kreuzen und nach einer schwarzen Perle zu suchen, ohne die die Mannschaft nie häufiger als einmal im Jahr einen Fuß an Land setzen konnte...“ Er machte eine Pause, um sich geräuschvoll die Nase an seinem Fischerhemd abzuwischen, bevor er mich aus glasigen Augen anschaute. „Jeder weiß, mein Junge: in der Ostsee gibt es keine Perlen. Und schon lange keine schwarzen.“ Das nächste Glas Rum ging in einem Zug hinunter. Der gebannte Zuhörer winkte hektisch dem Wirt. “ Die Tauchgänge bis in die tiefsten Tiefen der Ostsee wurden vielen der verfluchten Mannschaft zum Verhängnis, und somit braucht die Seelenbrecher steten Nachschub an Deck.“ hickste der Mann, das letzte Wort mehr Rülps als Sprache. „Dorthin gehen die verschwundenen Menschen. An Deck der Seelenbrecher.“ Wir schwiegen eine Weile.
„Meine Großmutter, Gott habe sie selig, erzählte mir einst, dass auch die Frau des Kapitäns in der Zwischenzeit verschwand, wie Nebel, wie Nebel wenn die Sonne aufgeht. Und dass sie manchmal den Weissenhäuser Strand heimsucht. Einmal im Jahr. Wenn der Strand sich schwarz färbt.“ Ich verstand überhaupt nichts. „Wenn sie wüsste, dass ihr Mann dort draußen ist und noch immer nach der verdammten Perle sucht…“ sagte der alte Seebär und rutschte vom Hocker auf seine beiden krummen Beine. Ohne ein weiteres Wort und mit dem wankenden Gang eines Mannes, der mehr Lebenszeit auf See als auf festem Boden verbracht hatte, stapfte er zur Tür, rupfte seinen Mantel vom Haken daneben und entschwand in die regnerische Nacht, während man selbst zurückblieb und zusah, wie die Dunkelheit ihn verschlang.
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Kapitel I.
Hat man das Vergnügen, bei einer alten Schleswig-Holsteinischen Familie des Abends an ein prasselndes Kaminfeuer bei Bier und Doppelkorn eingeladen zu werden, so kann es passieren, dass das älteste Familienoberhaupt zu später Stunde einen Einblick in die Geschichten gibt, von denen schon die UrUrUr-Großmutter zu erzählen wusste. Nicht unwahrscheinlich ist es dann, wenn das Kaminfeuer bereits runtergebrannt ist und die gute Stube nur noch vom Glimmen der Glut in verhaltenes Licht getaucht wird, von der Legende des schwarzen Strandes zu hören…
Es wird erzählt werden von einer Heimsuchung, von einer Erscheinung, ja von einem Geist, dessen Seele immer wieder an den Weißenhäuser Strand zurückkehrt. Niemand weiß genau wann, doch höchstens einmal im Jahr, des Nachts, färbt sich der Sand des Weißenhäuser Strandes schwarz, erzählt man sich. In diesen Nächten schwört so manch unbedarfter Nachtwanderer Stein und Bein, dass er eine junge Frau in einem weißen Kleid auf den Salzwiesen gesehen hat. Die Laterne in ihrer Hand taucht sie in leichenfahles Licht, obwohl auch sie selbst nicht von der Dunkelheit verschlungen zu werden vermag. Nur eine kleine Unaufmerksamkeit, nur ein Wimpernschlag genügt, und sie ist verschwunden, als wäre sie nie dagewesen, und nur das Rauschen der dunklen See bleibt zurück.
Die einen sagen, es ist ein Fluch. Die anderen, dass die Dame in weiß das Vieh und die umliegenden Siedlungen beschützt. Doch die Ältesten wiederum meinen sogar ihren Namen zu kennen. Die Geschichte erzählt von der jungen Isabelle LeFavre, einer Maid aus gutem, wohlhabendem Hause, deren Händlerfamilie im späten 16. Jahrhundert am Weißenhäuser Strand sesshaft wurde. Isabelle verliebte sich in einen einfachen Fischersjungen aus einem nahe gelegenen Dorf und schon bald versprach sich das junge Paar einander. Doch das Glück war der zarten Liebe nicht hold. Es war die Zeit des Großen Nordischen Krieges, und wie jeder weiß, ist Krieg schlecht für das Geschäft.
Schon bald war das Familienvermögen dahin, Vater und Mutter an Alter und Gebrechlichkeit gestorben, die Belegschaft verschwunden und Isabelle und ihr Geliebter bewohnten das große, weiße Haus alleine, während sich über das spärliche Mobiliar vieler ungenutzter Räume der Staub legte. Kriegszeiten sind entbehrungsreiche Zeiten und die Fischerei vermochte es nur spärlich, Isabelle und ihren Mann zu ernähren. Oft war das einzige, was ihre Mägen füllte, nur die Liebe zueinander, während um sie herum die Farbe von den Wänden blätterte und der Wind durch tausende Risse in den Fenstern des Hauses pfiff.
Der Fischer vermochte es nicht länger, seiner zierlichen Frau beim Hungern zuzuschauen und so fasste er einen Entschluss, den viele Fischer und Seemänner damals fassten, als Kälte und Hunger drohend an der Tür klopften: er wurde Seeräuber. Zunächst lockte die Bande nur Versorgungsschiffe durch falsche Leuchtfeuer auf die tückischen Klippen, doch schon bald mussten sie selbst auf gekaperten Schonern Schiffe auf hoher See aufbringen. Und Isabelle blieb alleine zurück. Jedes Mal, wenn Ihr Mann für Wochen auf Kaperfahrt ging, schaute Isabelle auf die See hinaus. Ging Ihr Mann auf Raubzug, wünschte sie sich stets dasselbe von ihm: Dass er heil zu Ihr zurückkehren möge Ihr Mann schwor beim Sand des Strandes, dass er wiederkehrt, eine schwarze Perle in den Händen.
Doch eines stürmischen Herbstes wartete Isabelle vergebens. Wochen und Monate zogen ins Land, ohne dass ein schwarzes Segel am Horizont auftauchte. Tag für Tag stand sie, spärlich bekleidet, bei Wind und Wetter auf dem Deich und spähte auf die unruhige See hinaus. Des Nachts sah man das Licht einer Laterne auf der Spitze der Überseebrücke schimmern, Schnee und Graupel schienen ihr nichts auszumachen, wenn sie des Winters durch die Marschen mäanderte, die Augen stets auf den grauen Horizont gerichtet. Der letzte Mensch, der ein Lebenszeichen von Isabelle LeFavre wahrnahm war der Deichgraf, der auf einem Rundgang in der regnerischen Abenddämmerung im Frühling das Licht ihrer Laterne wieder einmal auf der Spitze der Überseebrücke erspähte, als es plötzlich verlosch.
Niemand hat Isabelle LeFavre jemals wieder lebend gesehen. Doch schon bald sprach man von der Frau in weiß, die einmal im Jahr, wenn der Strand sich wie von einer Flechte des Nachts befallen schwarz färbte, durch die Marschen wanderte, eine Laterne in der Hand. Das letzte Mal, dass die Dame in weiß auftauchte, war das Jahr 2009. Seitdem ist es ruhig um die Legende von Isabelle LeFavre geworden. Doch wann färbt sich der Weißenhäuser Strand wohl das nächste Mal schwarz?