The Legend of
Plage Noire
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Kapitel I.
Hat man das Vergnügen, bei einer alten Schleswig-Holsteinischen Familie des Abends an ein prasselndes Kaminfeuer bei Bier und Doppelkorn eingeladen zu werden, so kann es passieren, dass das älteste Familienoberhaupt zu später Stunde einen Einblick in die Geschichten gibt, von denen schon die UrUrUr-Großmutter zu erzählen wusste. Nicht unwahrscheinlich ist es dann, wenn das Kaminfeuer bereits runtergebrannt ist und die gute Stube nur noch vom Glimmen der Glut in verhaltenes Licht getaucht wird, von der Legende des schwarzen Strandes zu hören…
Es wird erzählt werden von einer Heimsuchung, von einer Erscheinung, ja von einem Geist, dessen Seele immer wieder an den Weißenhäuser Strand zurückkehrt. Niemand weiß genau wann, doch höchstens einmal im Jahr, des Nachts, färbt sich der Sand des Weißenhäuser Strandes schwarz, erzählt man sich. In diesen Nächten schwört so manch unbedarfter Nachtwanderer Stein und Bein, dass er eine junge Frau in einem weißen Kleid auf den Salzwiesen gesehen hat. Die Laterne in ihrer Hand taucht sie in leichenfahles Licht, obwohl auch sie selbst nicht von der Dunkelheit verschlungen zu werden vermag. Nur eine kleine Unaufmerksamkeit, nur ein Wimpernschlag genügt, und sie ist verschwunden, als wäre sie nie dagewesen, und nur das Rauschen der dunklen See bleibt zurück.
Die einen sagen, es ist ein Fluch. Die anderen, dass die Dame in weiß das Vieh und die umliegenden Siedlungen beschützt. Doch die Ältesten wiederum meinen sogar ihren Namen zu kennen. Die Geschichte erzählt von der jungen Isabelle LeFavre, einer Maid aus gutem, wohlhabendem Hause, deren Händlerfamilie im späten 16. Jahrhundert am Weißenhäuser Strand sesshaft wurde. Isabelle verliebte sich in einen einfachen Fischersjungen aus einem nahe gelegenen Dorf und schon bald versprach sich das junge Paar einander. Doch das Glück war der zarten Liebe nicht hold. Es war die Zeit des Großen Nordischen Krieges, und wie jeder weiß, ist Krieg schlecht für das Geschäft.
Schon bald war das Familienvermögen dahin, Vater und Mutter an Alter und Gebrechlichkeit gestorben, die Belegschaft verschwunden und Isabelle und ihr Geliebter bewohnten das große, weiße Haus alleine, während sich über das spärliche Mobiliar vieler ungenutzter Räume der Staub legte. Kriegszeiten sind entbehrungsreiche Zeiten und die Fischerei vermochte es nur spärlich, Isabelle und ihren Mann zu ernähren. Oft war das einzige, was ihre Mägen füllte, nur die Liebe zueinander, während um sie herum die Farbe von den Wänden blätterte und der Wind durch tausende Risse in den Fenstern des Hauses pfiff.
Der Fischer vermochte es nicht länger, seiner zierlichen Frau beim Hungern zuzuschauen und so fasste er einen Entschluss, den viele Fischer und Seemänner damals fassten, als Kälte und Hunger drohend an der Tür klopften: er wurde Seeräuber. Zunächst lockte die Bande nur Versorgungsschiffe durch falsche Leuchtfeuer auf die tückischen Klippen, doch schon bald mussten sie selbst auf gekaperten Schonern Schiffe auf hoher See aufbringen. Und Isabelle blieb alleine zurück. Jedes Mal, wenn Ihr Mann für Wochen auf Kaperfahrt ging, schaute Isabelle auf die See hinaus. Ging Ihr Mann auf Raubzug, wünschte sie sich stets dasselbe von ihm: Dass er heil zu Ihr zurückkehren möge Ihr Mann schwor beim Sand des Strandes, dass er wiederkehrt, eine schwarze Perle in den Händen.
Doch eines stürmischen Herbstes wartete Isabelle vergebens. Wochen und Monate zogen ins Land, ohne dass ein schwarzes Segel am Horizont auftauchte. Tag für Tag stand sie, spärlich bekleidet, bei Wind und Wetter auf dem Deich und spähte auf die unruhige See hinaus. Des Nachts sah man das Licht einer Laterne auf der Spitze der Überseebrücke schimmern, Schnee und Graupel schienen ihr nichts auszumachen, wenn sie des Winters durch die Marschen mäanderte, die Augen stets auf den grauen Horizont gerichtet. Der letzte Mensch, der ein Lebenszeichen von Isabelle LeFavre wahrnahm war der Deichgraf, der auf einem Rundgang in der regnerischen Abenddämmerung im Frühling das Licht ihrer Laterne wieder einmal auf der Spitze der Überseebrücke erspähte, als es plötzlich verlosch.
Niemand hat Isabelle LeFavre jemals wieder lebend gesehen. Doch schon bald sprach man von der Frau in weiß, die einmal im Jahr, wenn der Strand sich wie von einer Flechte des Nachts befallen schwarz färbte, durch die Marschen wanderte, eine Laterne in der Hand. Das letzte Mal, dass die Dame in weiß auftauchte, war das Jahr 2009. Seitdem ist es ruhig um die Legende von Isabelle LeFavre geworden. Doch wann färbt sich der Weißenhäuser Strand wohl das nächste Mal schwarz?
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Kapitel II. - Seemannsgarn
Seemannsgarn gibt es vieles. Das meiste ist gesponnen aus Hörensagen, Halbwahrheiten, Geschichte, Aberglaube und meistens einer Menge Rum. Doch das beste, das stärkste Seemannsgarn birgt immer auch einen Funken Wahrheit in sich. Und dieser Funken ist es, der einen des Nachts kein Auge zu machen lässt. So etwas bekommt man nicht bei denen, die am lautesten grölen. Man halte Ausschau nach dem gedrungensten Seefahrer, der einsam am entlegensten Tisch oder am hintersten Ende der Theke der Schankwirtschaft sitzt, das Gesicht faltig wie altes Leder, mehr grau als Farbe im Bart, die mächtige Faust schweigend um das Glas Rum gelegt, das die ganze Nacht nicht leer zu werden scheint, obwohl er stetig daran nippt. Die Augen stets auf den Boden des Glases oder der unsichtbaren Welt dahinter gerichtet. Augen, die viel zu viel gesehen haben, als dass ihr Besitzer nicht längst schon mit dem Diesseits abgeschlossen hätte. Das ist die Art Mann, die man sucht. Und wenn man Glück hat, bereit ist eine Zeit gemeinsam zu schweigen und dafür sorgt, dass der Boden des Rumglases niemals trocken wird, dann erfährt man die erstaunlichsten Dinge…
Ob man denn schon am Wasser war, wird man vielleicht gefragt. Nein nein, nicht wie die Landratten zu Tage, mit ihren lärmenden Kindern und ihren Fotoapparaten, sondern dann, wenn die See spricht – des Nachts. Oder in der nebligen Morgendämmerung, wenn die Klage der unheilvollen Geheimnisse des Meeres von den geisterhaften Nebeln der Verheißung eines neuen Tages abgelöst wird. Nein, des Nachts beliebe man zu schlafen oder zu trinken, antwortet man dann eventuell und erntet damit nur einen ernsten Blick. „Gut“ grummelt es dann womöglich aus dem dichten Bart hervor, denn dieser Tage sei das kein Ort für Landratten.
„Warum?“ hört man es der eigenen Zunge entfleuchen, vom Schnaps etwas zu gelöst „Ist Erkältungssaison?“ Der Blick des Mannes taxiert einige Zeit schweigend sein Gegenüber aus dem Schatten seines Elbseglers heraus. Gerade als sein Blick unangenehm zu werden beginnt, wendet er sich wieder dem Boden seines Glases zu und raunt: „Die Seelenbrecher wurde gesehen“. „Was soll das sein?“ fragt man dann eventuell verwundert. „Ich weiß nicht viel. Nur so viel, dass ich mich auf Teufel komm raus von der Mole fern halte in Nächten wie diesen.“, murmelt er und nimmt einen großen Schluck. „Angeblich ist die Seelenbrecher ein aufgebrachter Schoner aus dem nordischen Krieg. Piraten, verstehst Du? Die Dänischen, Schwedischen und Schleswig-Holsteinischen Flotten zerrieben sich gegenseitig in ihren Territorialkämpfen, die Ostsee färbte sich rot vom Blute der Erschlagenen und die Landbevölkerung darbte und starb an Hunger und ein jeder kämpfte ums Überleben. Das war auch die Zeit, in der die Seeräuberei explodierte, aus der Not der Menschen heraus, kapierst Du das?“ Man vermag dann nur zu nicken, während man dem Wirt deutet, dieses Dock hier um Himmels Willen nicht trocken fallen zu lassen. „Viele Leben fielen den Piraten zum Opfer und viele Piraten landeten am Strick durch die Flotten der drei verfeindeten Länder, doch eines der Piratenschiffe hatte einen ganz speziellen Ruf, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand oder in der Kajüte sprach. Es hieß, es bringe Unglück, den Namen an Deck auszusprechen…
Seelenbrecher... Er schaute sich verstohlen um und ich hörte, wie seine geschwollenen Fingerknöchel drei Mal auf dem dunklen Tresen aufschlugen. „Meine eigene Großmutter erzählte mir, dass sich niemand an den ursprünglichen Namen des Schoners erinnert, doch dass es Geschichten gäbe, dass das Schiff irgendwann in ein Unwetter geriet und schwer angeschlagen viele hundert Seemeilen abgetrieben wurde und für viele Jahre verschwand. Angeblich drohte es zu sinken und der Kapitän, ein ehemaliger Fischersjunge, flehte die Götter an, dass sie sein Schiff und die Mannschaft verschonen mögen. Er hatte eine Frau an den Gestaden von Schleswig-Holstein und hatte Ihr versprochen, zu ihr zurück zu kehren, eine schwarze Perle in den Händen. Die Götter erhörten sein Wehklagen und sie schauten in sein Herz. Sie sahen das Blut, das an seinen Händen klebte und die Verderbtheit in seiner Seele, aber auch den reinen Funken im Herzen dieses Mannes, der die Liebe zu seiner Frau Isabelle war.
Und so kehrte das Schiff viele Jahre später zurück an die hiesigen Gestade. Selten, und nur des Nachts oder in der nebligen Morgendämmerung konnte man schwarze Segel am Horizont sehen und hörte das entfernte Knarzen der Takelage. Den Namen „Seelenbrecher“ hat ihm das Küstenvolk gegeben, da in den Nächten, in der der Schoner gesehen wurde, immer wieder Menschen verschwanden, die unachtsam zu nahe ans Wasser gekommen waren.
Der teuflische Pakt mit den Göttern verschonte das Leben der Mannschaft. Sie schickten die Seelenbrecher zurück auf See, doch war sie nun auf Ewigkeit dazu verdammt, die Ostsee zu kreuzen und nach einer schwarzen Perle zu suchen, ohne die die Mannschaft nie häufiger als einmal im Jahr einen Fuß an Land setzen konnte...“ Er machte eine Pause, um sich geräuschvoll die Nase an seinem Fischerhemd abzuwischen, bevor er mich aus glasigen Augen anschaute. „Jeder weiß, mein Junge: in der Ostsee gibt es keine Perlen. Und schon lange keine schwarzen.“ Das nächste Glas Rum ging in einem Zug hinunter. Der gebannte Zuhörer winkte hektisch dem Wirt. “ Die Tauchgänge bis in die tiefsten Tiefen der Ostsee wurden vielen der verfluchten Mannschaft zum Verhängnis, und somit braucht die Seelenbrecher steten Nachschub an Deck.“ hickste der Mann, das letzte Wort mehr Rülps als Sprache. „Dorthin gehen die verschwundenen Menschen. An Deck der Seelenbrecher.“ Wir schwiegen eine Weile.
„Meine Großmutter, Gott habe sie selig, erzählte mir einst, dass auch die Frau des Kapitäns in der Zwischenzeit verschwand, wie Nebel, wie Nebel wenn die Sonne aufgeht. Und dass sie manchmal den Weissenhäuser Strand heimsucht. Einmal im Jahr. Wenn der Strand sich schwarz färbt.“ Ich verstand überhaupt nichts. „Wenn sie wüsste, dass ihr Mann dort draußen ist und noch immer nach der verdammten Perle sucht…“ sagte der alte Seebär und rutschte vom Hocker auf seine beiden krummen Beine. Ohne ein weiteres Wort und mit dem wankenden Gang eines Mannes, der mehr Lebenszeit auf See als auf festem Boden verbracht hatte, stapfte er zur Tür, rupfte seinen Mantel vom Haken daneben und entschwand in die regnerische Nacht, während man selbst zurückblieb und zusah, wie die Dunkelheit ihn verschlang.
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Kapitel III. - Der Preis des Wissens
Die Geschichte der Parapsychologie ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Sie ist ein Geflecht aus Befindlichkeiten, Halbwissen, Aberglaube, falschem Stolz, sowie einer großen Portion Wagemut, garniert mit einer Prise Verwegenheit. Findet man die innere Balance und blättert durch die Ausgaben einschlägiger „Fachmagazine“ wie der „Metaphysics Today“, dem „Spirit Mirror“ oder der „Beyond Bulletin“, so wird man den ein oder anderen Artikel über ein ganz bestimmtes übernatürliches Phänomen entdecken, das die Gemüter parapsychologischer Zirkel seit Jahrhunderten erregt, aber niemals eingehend erforscht wurde. Artikel über dieses Mysterium sind stets vage, fast als ob der jeweilige Autor nicht den Mut findet, das Thema genauer als nur aus den Augenwinkeln zu betrachten. Möglicherweise liegt es an der journalistischen Unfähigkeit der Schreiber oder an der spärlichen Faktenlage, dass es das Mysterium nie auf die Titelseiten dieser Welt geschafft hat, aber vielleicht ist der Grund auch, dass ein großer Teil der Autoren kurz nach Erscheinen ihrer Artikel entweder krank wurden, seltsame Unfälle erlitten, oder aus unerfindlichen Gründen verschwanden…
In diesen Artikeln ist die Rede von einer Geheimgesellschaft hoheitlicher Lords und Ladies, namens „Gesellschaft der Metaforschung“ oder auch „Turba Spirituum“, die es sich im frühen 19. Jahrhundert zur Aufgabe gemacht hatten, okkulte Schriften zu archivieren, magische Artefakte zu sammeln und übernatürliche Phänomene zu erforschen. Sie glaubten unumstößlich an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und daran, dass das Gewebe der Realität viele Taschen aufweist, in denen sich Energien verfangen können. Diese zu ergründen war der vornehmste Auftrag, dem sich die Turba Spirituum verschrieben hatte.
Angeblich war die vermutlich fünfköpfige Gesellschaft, bestehend aus zwei Ladys und drei Lords aus wohlhabendem Hause, in der Vergangenheit nicht vollkommen erfolglos geblieben, denn sie verfügte über beachtliche finanzielle Mittel, einen Zweifelhaften Ruf in der Londoner Oberschicht und genoss hohes Ansehen in einschlägigen Kreisen. Angeblich hatten Experimente mit alten skandinavischen Runen zu einer Beeinflussung des Wetters geführt, was, wenn man das Londoner Wetter kennt, nicht unbedingt etwas bedeutet.
Eines Tages stieß die „Gesellschaft der Metaforschung“ auf ein vielversprechendes Phänomen, das eine ländliche Gegend an der Schleswig-Holsteinischen Gestaden heimsuchte. Legenden erzählten von einer Geistererscheinung, die immer dann auftauchte, wenn sich der Sand des Weißenhäuser Strandes schwarz färbte. Die Turba Spirituum hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine Erscheinung, einen Geist oder eine anderweitig diesseits manifestierte Energie einzufangen und eingehend zu erforschen – zum Wohle der Menschheit! Dass dieses noble Bestreben in einer schrecklichen Tragödie enden sollte, konnten die Lords und Ladys jedoch nicht ahnen…
Eine Expedition wurde zusammengestellt, Gerätschaften behutsam verpackt und Ausrüstung verschifft. Nur wenige Wochen später traf der Forschertrupp in Wangels ein, der Gegend, in der die Erscheinung am häufigsten gesehen worden sein soll. Das Hauptquartier der Expedition wurde im Salon einer Pension aufgeschlagen, ein Gasthaus in einer alten weißen Villa, in direkter Nähe zum Weißenhäuser Strand. Die Betreiber der Pension wunderten sich über das Tohuwabohu der gut ein Dutzend Angestellten der Expedition, die die Gemächer der Turba herrichteten, Karten auf Tischen ausbreiteten und seltsame tickende, qualmende und leuchtende Gerätschaften im Salon aufbauten. Ein weiteres Basislager wurde direkt am Weißenhäuser Strand errichtet und mit der Beobachtung des Sandes beauftragt.
Die Wochen zogen ins Land und aus dem späten Winter wurde früher Frühling. Die Beobachtung des Strandes hatte bisher keine Besonderheiten zutage gebracht und die Crew, die ihre Zeit in dem Zeltlager verbrachte, wurde zunehmend müßig. Also entschied Expeditionsleiter und Vorstand der Turba Spirituum, Dr. Huxley van Sant, Nachforschungen unter den Einheimischen anzustellen. Nach einer Nacht in den örtlichen Hafenkneipen, die nicht allzu viel Brauchbares zutage befördert hatte, kehrte van Sant in den Morgenstunden in das Landhaus zurück. Die Einheimischen sprachen nicht gerne mit Fremden und die Brocken der Geschichte, die er unter Einsatz einer Menge Schnaps hervorlocken konnte, beschränkten sich auf besoffenes Geschwätz über Teufel, Höllenhunde, ein Geisterschiff und einen Namen: Isabelle LeFavre. Gerade bog van Sant auf den Kiesweg hinauf zur Pension ein, als ihm schon sein Kollege Lord Fauntleroy entgegen hastete, in heller Aufregung und mit vor Panik ringenden Händen. Er eröffnete van Sant, dass die gesamte Crew des Basis-Zeltlagers Hals über Kopf das Weite gesucht hatte. Nur einer der knapp ein halbes Dutzend Männer, die dort die Stellung halten sollte, war zur Pension zurückgekehrt, in das Foyer gestürmt um seine Bibel zu holen und konnte nur unter massivem körperlichen Einsatz dazu gebracht werden, zu erklären was geschehen sei. Nach einer Menge ermutigender Worte und ein paar Gläschen Cherry erklärte der Mann, dass es ein Abend wie jeder andre im Basiscamp gewesen sei. Die Männer hätten am Lagerfeuer gesessen, getrunken und Lieder gesungen, bis sich plötzlich etwas veränderte. Die Runde verstummte und sah in das Feuer, das zwar noch immer vor sich hin knisterte, aber in einem grellen blau brannte. In diesem Moment würgte einer der Männer, der gerade noch in einen Apfel gebissen hatte und spuckte einen Mundvoll Würmer in den Sand. Gleich darauf brach das Zelt über den Köpfen der Gruppe zusammen, da der Zeltmast von einem Moment auf den anderen morsch und brüchig wie Pergament geworden war. Der Wein war nur noch Essig, Seile rissen plötzlich und als einer der Mannschaft seinem Schrecken Ausdruck verleihen wollte, fielen ihm alle Zähne wie Murmeln aus dem Mund. Erst in diesem Moment bemerkten die Männer, dass der Sand seine natürliche Farbe verloren hatte und schwarz wie ein Leichentuch unter ihren Füßen lag.
Nach diesem Bericht hatte der Mann seine Bibel fest an sich gedrückt, sich die restliche Flasche Cherry geschnappt, machte es dem Rest seiner Kameraden gleich und stürzte panisch in die Nacht hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Einerseits bestürzt über den Verlust der Crew, andererseits höchst erfreut über den ersten Hinweis auf paranormale Aktivitäten, schleifte van Sant den noch immer besorgten Fauntleroy in den Expeditionsaal der Pension, um mit den restlichen Mitgliedern der Gesellschaft das weitere Vorgehen zu besprechen. Besonders die Marquess Winterborough zeigte sich überaus euphorisch und hatte bereits die nötigen Gerätschaften zusammengepackt, um ein Spektogramm des Phänomens zu erstellen und somit weitere Daten über die Heimsuchung zu sammeln.
Die Enttäuschung war groß, als die Gesellschaft herausfand, dass der Sand des Weissenhäuser Strandes eine völlig normale Färbung hatte. Auch die dampfenden und blinkenden Spektografen der Marquess zeigten keinerlei Spuren paranormaler Energien auf und Lady Agatha Flittmore war es, die die Vermutung anstellte, dass der Sand eventuell nur des Nachts seine Farbe änderte. Sie richtete sich und ihr portables Chemikalienlabor im Strandlager ein, um weitere Untersuchungen anzustellen.
Lord Fauntleroy, seines Zeichens Experte für Runen und alte Schriften, wollte sein Glück in einer nahe gelegenen Bibliothek versuchen, um eventuell alte Schriftstücke und Folklore über das Mysterium zutage zu fördern. Lord Knobwood, der fünfte im Bunde der Turba Spirituum, blieb bei Lady Flittmore, um ihr bei den Untersuchungen zu helfen und van Sant und Lady Winterborough machten sich zurück auf den Weg zur Pension. Sie wussten nicht, dass dies das letzte Mal sein sollte, an dem sich die „Gesellschaft der Metaforschung“ lebendig gegenüberstand.
Van Sant und Winterborough waren stundenlang unterwegs. Sie streiften kreuz und quer durch die Marschen und folgten jenen bekannten Wegen, die sie üblicherweise zu ihrem Gasthaus geführt hätten, doch jedes Mal, wenn sie sich sicher waren an der Stelle zu sein, an der das weiße Gasthaus gestanden hatte, kündete nur der verwitterte Stumpf von etwas, das wohl mal ein Schornstein gewesen sein mag, von Zivilisation. Obwohl es völlig unmöglich war, dass eine weiße Villa in den Dünen einfach so verschwand, gaben Winterborough und van Sant schließlich auf und machten sich auf den Weg zurück zu ihren Kollegen an den Strand, während die Nacht hereinbrach.
Die erste, die sie fanden, war Lady Flittmore. Zuerst erkannten sie sie nicht, da die Leiche, die in einem zum Trocknen aufgehängten Fischernetz hing, schneeweißes Haar hatte. Sie schien in Panik durch den Nebel losgelaufen zu sein und hatte auch dann nicht aufgehört zu rennen, als sie sich bereits in dem Netz verfangen hatte. Die feinen Schnüre des Netzes hatten so tief in ihre Haut geschnitten, dass sie schließlich Sehnen reißen ließen und ihre Schlagadern geöffnet hatten.
Auch wussten van Sant und Winterborough zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Lord Fauntleroy in der nahen Bibliothek zwar fündig geworden war, aber aus unerfindlichem Grunde irgendwann angefangen hatte Seiten aus dem Folianten, den er gerade studierte, herauszureißen und sich in den Rachen zu schieben. Er hatte so lange weitergemacht, bis er schließlich an dem Papier erstickt war.
Van Sant musste die erschütterte Marquess Winterborough auf dem Weg zum Strandlager stützen, als sie durch den Nebel die entfernten Umrisse Lord Knobwoods auf der Überseebrücke entdeckten. Knobwood stand wie versteinert an der Spitze der Brücke, sein lockiges Haar nun schneeweiß. Van Sant schnappte sich eine brennende Laterne, als er durch das Lager rannte und versuchte seinen Freund zu rufen. Doch wie durch einen sanften Schubs kippte die korpulente Figur Lord Knobwoods vornüber und fiel wie ein Stein in die sprühende Gischt der fauchenden Ostsee. Ungläubig blieb van Sant stehen und starrte durch die Nacht auf die Stelle, an der sein Freund gerade noch gestanden hatte, als er bemerkte, dass die Petroleumlampe in seiner Hand nicht gelb, sondern blau brannte. Van Sant schwang herum, nur um entsetzt dabei zuzusehen, wie sich eine geisterhafte Gestalt durch das Dünengras auf die Marquess Winterborough zubewegte. Die mit dem Rücken zur Erscheinung gewandte Marquess fummelte an einer seltsamen Apparatur herum, die nicht das zu tun schien, was sie von ihr erwartete. Van Sants ängstlicher Schrei muss sie aus ihrer Unachtsamkeit gerissen haben, jedenfalls schreckte sie in dem Moment hoch, als das leichenfahle Geschöpf sie berührte. Gleichzeitig zerriss eine grüngrelle Explosion die Luft, die Huxley van Sant von den Füßen riss und für einen Moment geblendet im Sand liegen ließ. Benommen und halb blind versuchte er die Petroleumlampe zu finden, deren Flamme wieder die Farbe normalen Feuers angenommen hatte, bis er schließlich ihren metallenen Haltebügel ertastete. So schnell es ging stolperte er zurück und fand die Marquess inmitten eines sandfarbenen Kreises liegen. Außerhalb dieses Kreises war der Sand tiefschwarz, so als habe die Explosion ein Loch in die dunkle Flechte gerissen. Marquess Winterborough hatte die Augen weit geöffnet und ihr nun schneeweißes Haar umwehte ihr feines Gesicht wie Spinnweben. Ihr fehlte eine Hand, die, wie sich später rausstellte, eine Weihwasserdampf-Granate gehalten hatte, eine Eigenkreation der Marquess zur Vertreibung von Dämonen. Von dem Geist selbst fehlte jedoch jede Spur.
Was danach geschah ist leider nicht mehr ausreichend dokumentiert. Man sagt, dass Marquess Winterborough noch einige Jahre in einem Sanatorium lebte, aber nie wieder aus ihrem katatonischen Zustand erwachte. Dr. Huxley van Sants Spuren verlieren sich an dem schicksalshaften Tag. Manche sagen, er habe Selbstmord begangen, andere berichten, dass er die Turba Spirituum alleine im Geheimen weiterführt. Wer weiß, vielleicht wissen wir eines Tages mehr…